Ein persönlicher Blick auf die gesellschaftliche Schieflage.
Es wird aktuell viel darüber gesprochen, dass die Menschen in Deutschland nicht mehr genug arbeiten würden. Die Schlagzeilen überschlagen sich: Die Arbeitszeit müsse steigen, das Rentensystem sei gefährdet, und die Wirtschaft brauche dringend mehr Leistung. Doch wer sich im Alltag umhört, wer wirklich mit den Menschen spricht, mit jenen, die das gesellschaftliche Fundament tragen, der hört eine ganz andere Geschichte.
Ich bin Erzieherin. Ich arbeite 35 Stunden die Woche, nicht, weil ich faul bin oder keine Lust auf mehr hätte, sondern weil ich schlicht nicht mehr leisten kann. Ich bin getrennt lebend, Mutter von zwei Kindern im Teenageralter. Allein das bringt schon einen Alltag mit sich, der einem Marathon gleicht. Meine Arbeit ist nicht nur körperlich, sondern auch emotional fordernd. Und trotzdem liebe ich sie. Ich liebe es, Kinder zu begleiten, sie zu stärken, ihnen Sicherheit zu geben. Aber der Preis, den ich dafür zahle, ist hoch.
Die Realität hinter den Forderungen
Wenn also davon gesprochen wird, dass wir doch bitte „mehr arbeiten“ sollen – frage ich mich: Für was denn eigentlich?
Finanziell lohnt es sich kaum. Wer ein paar Stunden mehr arbeitet, merkt schnell: Das Mehr an Gehalt verschwindet nahezu komplett durch höhere Abzüge. Die Steuer, die Krankenkassenbeiträge, all die Kleinigkeiten, die vom Brutto verschwinden, am Ende bleibt kaum ein Unterschied. Und der Mehraufwand, den man leisten muss, macht sich eher in Erschöpfung als im Portemonnaie bemerkbar.
Dazu kommt der Lebensunterhalt, der sich kaum mehr stemmen lässt:
Miete für eine Drei- bis Vierzimmerwohnung liegt heute locker zwischen 750 und 1000 Euro. Dazu kommen Nebenkosten, die kontinuierlich steigen Strom, Heizung, Internet, Müllabfuhr. Und wer aktuell einen Wocheneinkauf für eine Familie macht, weiß: Da gehen schnell 150 bis 200 Euro durch. Die Preise steigen, ohne dass sich das Gehalt in gleichem Maße anpasst. Und wenn man das Pech hat, dass ein Kind krank ist oder zusätzliche Ausgaben wie Klassenfahrten oder neue Kleidung anstehen, dann wird es schnell eng.
Die mentale Belastung, ein stilles Tabuthema
Was bei diesen Debatten fast nie mitgedacht wird: die mentale Gesundheit.
Ich bin nicht nur Erzieherin. Ich bin Mutter, Zuhörerin, Haushaltmanagerin, Trösterin, Organisatorin, Planerin. Und ich bin auch einfach Mensch, mit Gefühlen, mit Bedürfnissen, mit Grenzen.
Die tägliche Last ist kaum sichtbar, aber sie ist da. Und sie wiegt schwer. Besonders dann, wenn man das Gefühl hat, dass man sich abstrampelt und trotzdem nicht vorankommt. Wenn man jeden Tag sein Bestes gibt und trotzdem kaum wahrgenommen wird.
Es gibt Tage, da frage ich mich: Wie soll ich das noch 15 oder 20 Jahre durchhalten? Wie lange kann ich noch in einem System funktionieren, das mir keine Verschnaufpause lässt?
Kinder? Ein blinder Fleck in der Politik
Was mich besonders wütend und traurig macht: Die Kinder, unsere Zukunft, werden politisch fast komplett übersehen.
Die Kitas werden Jahr für Jahr mit neuen Sparmaßnahmen konfrontiert. Es fehlt an Personal, an Ausstattung, an finanziellen Mitteln. Und gleichzeitig steigen die Erwartungen: Frühkindliche Bildung, Sprachförderung, Integration, Inklusion, Elternarbeit alles soll „nebenbei“ geleistet werden.
Und in den Schulen sieht es nicht besser aus. Dort wird immer noch gelehrt wie vor Jahrzehnten. Kinder werden mit Wissen vollgestopft, das sie für Prüfungen auswendig lernen und danach wieder vergessen. Bulemie-Lernen, sagen manche. Ich nenne es: eine verpasste Chance.
Wo bleibt der Raum für Kreativität? Für Problemlösungen? Für soziales Lernen, für Selbstvertrauen, für Persönlichkeitsentwicklung? Wo bleiben die Beziehungen, die das Lernen überhaupt erst möglich machen?
Der Mensch rückt in den Hintergrund, während der Leistungsdruck ins Unermessliche wächst.
Und dann lesen wir in Statistiken, dass jedes Jahr Zehntausende Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen. Ohne Perspektive. Ohne Halt. Ohne Vertrauen in sich selbst.
(Statistik: Laut Bildungsbericht 2022 verließen rund 47.500 Jugendliche die Schule ohne Abschluss – Quelle: www.bildungsbericht.de)
Hoffnung, wofür eigentlich noch?
Es fällt mir schwer, optimistisch zu bleiben. Denn was wird uns denn noch angeboten?
- Kein bezahlbarer Wohnraum.
- Keine echte Rentenperspektive.
- Keine verlässliche Kinderbetreuung.
- Keine Möglichkeit, Beruf und Familie wirklich zu vereinen.
Im Gegenteil, oft hat man das Gefühl, dass es für Familien eher schwieriger als leichter wird. Dass man sich fast schämen muss, wenn man nicht 40 Stunden Vollzeit arbeitet, obwohl man längst am Limit ist. Dass man sich ständig rechtfertigen muss: Für Pausen. Für Krankheitstage. Für Überforderung.
Und jetzt?
Ich habe keine einfache Lösung. Aber ich habe eine Stimme. Und ich will sie nutzen. Nicht um zu jammern, sondern um sichtbar zu machen, wie es vielen von uns geht. Denn ich weiß, ich bin nicht allein.
Es gibt so viele von uns da draußen, Mütter, Väter, Alleinerziehende, Pädagog:innen, Pflegende, Sozialarbeiter:innen, Angestellte, Selbstständige, die tagtäglich ihr Bestes geben und trotzdem das Gefühl haben, es reicht nie.
Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die nicht nur fordert, sondern auch fördert. Eine Politik, die zuhört. Ein Bildungssystem, das Kinder nicht mehr nur auf Noten reduziert, sondern sie als Menschen sieht. Eine Arbeitswelt, die nicht Erschöpfung belohnt, sondern echte Leistung, und zwar menschlich gedacht.
Wir brauchen keine weiteren Durchhalteparolen. Wir brauchen echte Veränderung. Für uns. Für unsere Kinder. Für unsere Zukunft.
EchtUnperfekt 🙂
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